Nehmen Sie sich etwas Zeit, diesen lebendigen Bericht aus unserem Schulalltag zu lesen. Es lohnt sich:
Bei rechter Überlegung aber gibt es den Alltag gar nicht, denn alltäglich geschehen Dinge, die so gar nicht alle Tage geschehen. Das liegt schon einmal daran, dass wir nicht alle Tage mit derselben Stimmung aus dem Bett steigen. Meist beschäftigt uns vor allem eine Sache besonders – vielleicht ein neuer Lösungsweg einer Matheaufgabe, die am Tag vorher noch unüberwindbar schien. Oder der Geburtstag der besten Freundin. Oder die große Neuigkeit von der Party am Wochenende. Oder das Bett, in dem man gerne noch liegen geblieben wäre. Wohl soll es auch Leute geben, denen bis zum Eintritt ins Schulgebäude so gar nichts Klares durch den Kopf gegangen ist.
So kommen alle zusammen mit dem, was sich in den Köpfen regt: Manche umarmen sich überschwänglich, andere klatschen lässig ab, manche gähnen einen Gruß an die Gemeinde heraus, während ein paar in der Couch eine gewisse Entschädigung für das entrissene Bett entdecken. Derweilen fechten die Lehrer*innen ihre (alltäglichen) Drachenkämpfe mit Druckern, Kopierern und Rechnern aus, raffen Papier- und Heftstapel zusammen und wuchten überladene Taschen in die Klassenräume.
Der alltägliche Unterricht beginnt mit dem alltäglichen Waldorf-Morgenspruch: „Ich schaue in die Welt. In der die Sonne leuchtet ..."
Oft tut sie das wirklich: scheint rosig durch die hohen Fenster. Der Himmel öffnet sich weit über unserer Schule: Es gibt keinen Gebäudekomplex in der Nachbarschaft, noch sonst etwas, das große Schatten wirft. Oft genug freilich hilft auch das nicht, denn die Wolken hängen schwer und grau und es pladdert endlos. Bisweilen hüllt eine trübe Nebelsuppe alles wie in einen Kokon ein – und im tiefen Winter ist die Sonne schlicht noch gar nicht aufgegangen. Dass das Wetter unsere Stimmung und damit unser Denken beeinflusst liegt nahe. Ist es nicht so, dass der klare Himmel unsere Gedanken weit macht? Dass er uns umsehen lässt, so dass wir plötzlich unsere Mitmenschen in neuen Farben erkennen – wie auch alles andere von hier bis zum Horizont und darüber hinaus? Und lassen prasselnde Regentropfen und Nebel uns umgekehrt nicht in uns selbst versinken, hinab zu den tiefsten Fragen, denen man nur begegnen kann?
Sonnenschein, Regen, Wind und Wolken tun also das ihrige, das Unterrichtsgeschehen einzufärben, genauso wie die Geschichten, die jeder von uns stets bei sich trägt. Aus manch einem sprudeln sie fortwährend heraus – ob in der Pause, im gewinnbringenden Unterrichtsgespräch oder im Nebengespräch (was die Lehrerinnen und Lehrer alltäglich zu blockieren versuchen). Andere wiederum behalten ihre Geschichten erst einmal für sich. Es ergeben sich Zentren allgemeiner Aufmerksamkeit, auf die Dutzende Lichtkegel gerichtet sind – und Stellen, die der Nebel verborgen hält. Nun kommt es darauf an, die Lichtkegel zu schwenken, damit niemand übersehen wird. Zweifellos die wichtigste der vielen alltäglichen Herausforderungen.
Schule, das ist der Ort, an dem wir lernen, über uns hinaus und zugleich in uns hinein zu schauen. Lehrer wie Schüler, Tag für Tag. Und natürlich ist Schule stets ein Spiegel der Gesellschaft, mit all ihren Zerwürfnissen und Widersprüchen, Ideen und gemeinsamen Glücksmomenten. Möglicherweise ist es demnach gar nicht so sehr der Lehrstoff, der den Sinn der allmorgendlichen Zusammenkünfte ausmacht, sondern die Begegnung als solche. Beim Geburtstagssingen, beim gegenseitigen Helfen, auch beim Konkurrieren und Debattieren, beim Präsentieren geleisteter Arbeit wie auch beim gemeinsamen Lachen und Staunen und Aufregen, beim Mittagessen, beim Schwitzen in der Sporthalle oder auf der Heimfahrt mit den Bus.
Alltäglich der Ablauf: Ankommen, Morgenspruch, der Hauptunterricht bis zur ersten großen Pause, dann wieder zwei Stunden Unterricht, Pause, Unterricht, Pause ... bunte und wunderschöne Tafelbilder, im nächsten Raum ein ungeheures Kreidewerk aus Chiffren und Zeichen, das von intensiven Gedankenflüssen zeugt. Die Geräusche von Sägen und Hämmern aus der Werkstatt. Schreie und Jauchzen bei Tischtennisplatte und Basketballkorb. Konzentriertes Schreiben bei einer Klassenarbeit, Augen, die die Weiten der Welt auf den großen Karten zu erfassen suchen. Köpfe, die aus Ton modelliert werden.
Dabei immer wieder aufs neue Begegnungen – die Erkenntnis, dass niemand stets gleich bleibt, weil sich die Gedanken und Gestaltungskräfte in immer neue Richtungen bewegen und stets neue Geschichten entstehen.