Endlich wieder Bühne sein
Endlich. Es ist der 7. Mai und die Monatsfeier beginnt. Moderator Birk Mylius, Lehrer der 5. Klasse, bringt direkt mit seinen ersten Worten das Motto der Veranstaltung auf den Punkt: Endlich! Endlich darf wieder gesungen werden auf der Bühne, endlich auch wieder ohne Maske getanzt, gespielt und vorgetragen werden, was in den letzten Wochen von den Schülerinnen und Schülern vorbereitet worden ist.
Zum ersten Mal nach zweieinhalb Jahren. Und so steht er da: der große Mittelstufenchor. Er füllt die komplette Bühnenfläche und stimmt mit voller Stimme das Publikum auf die bunten Darbietungen ein, die folgen.
Ein Känguru hüpft die Stufen hinauf, zusammen mit Mathelehrer Hendrik Andela. Auch eine gehörige Anzahl an Kindern und Jugendlichen reiht sich auf: alle Teilnehmer des diesjährigen Känguruwettbewerbs, der am 17. März deutschlandweit ausgetragen worden ist. 680.000 Schülerinnen und Schüler aus mehr als 9.300 Schulen haben geknobelt, gerechnet und ihre Köpfe rauchen lassen. Am Ende erfolgte eine Auswertung nach Punkten, aus der sich 16 mögliche Platzierungen ergaben. 426 Teilnehmer*innen erreichten die volle Punktzahl und damit Platz eins. 1.133 kommen auf den zweiten Platz, darunter zwei von der Waldorfschule Everswinkel. Ein weiterer Schüler erreicht Platz drei, so wie 2.993 andere deutschlandweit. Ein Wettbewerb ... An Waldorfschulen hadert man ein wenig mit Platzierungen und Bewerten nach Leistung, so gibt es bis 8. Klasse auch keine Noten, auch kein Sitzenbleiben. Dennoch zeigt man sich über dieses Ergebnis stolz – und natürlich sei das Mitmachen und der Mut, sich überhaupt dem Wettbewerb gestellt zu haben, ohnehin das, was zähle. Gemeinsamkeit, etwas zusammen vorführen und zu Gestalt bringen – das möchte man zeigen. Und während die Schülerin der 11. Klasse hinter dem Vorhang wieder aus dem Kängurukostüm steigt, werden schnell die bunten Kleider angezogen, die traditionell zur Eurythmie getragen werden.
Klasse 1 und 2, später auch Klasse 5 und 7, präsentieren ihre Bewegungskunst, begleitet von Klaviermusik. Ein französisches Gedicht wird geklatscht. Dann gibt es Zoff. Wer ist der wichtigste aller Handwerker? Eine Auseinandersetzung, mit der die dritte Klasse konfrontiert, aufgemacht in zünftiger Zimmermannstracht, mit Kochmütze oder im Blaumann. Wer erledigt die bedeutungsvollste Arbeit, wer ist unverzichtbar? Die Klasse trägt das Für und Wider im Chor vor und macht so die Unsinnigkeit der Diskussion deutlich, denn alle haben letztlich dieselben Argumente. Im Hausbau, womit sich die Drittklässler beschäftigt haben, wird besonders schnell klar, dass die Berufe sich ergänzen und alle gleich wichtig sind: Würde der Mauerer nicht mauern, könnte der Zimmermann nicht das Dach setzen.
Monatsfeiern werden oft als Herzstück der Waldorfpädagogik bezeichnet. Zur Gründungszeit der ersten Waldorfschule war angedacht, dass alle Klassen einmal im Monat auf der Bühne einen Teil von dem präsentieren, was sie zuletzt im Unterricht bewegt haben. In der Praxis wurden später zwei oder drei Feiern pro Schuljahr üblich. Auf der Bühne kommt es zu einem weiteren Höhepunkt: Perspektivwechsel! Mit selbst geschriebenen Geschichten regt die 5. Klasse dazu an, die Welt aus der Sicht des Rheins zu sehen: Hinabzustürzen aus dem Gebirge und den Fall bei Schaffhausen, quer durch den Bodensee, sich vorzustellen mit wilden Strudeln am Loreleifelsen vorbeizugluckern, um am Ende träge im flachen Delta auszufließen. Und was der gute alte Rhein währenddessen alles zu hören bekommt! Die Schülerinnen und Schüler reden im Schwyzerdütsch, schwätza auf Schwäbisch und in Kölsche Sproch – und machen so deutlich, dass der alte Strom Sprach- und Kulturräume miteinander verbindet.
Es ist eine Darbietung, die Spaß macht, genau wie die nächste, bei der die 6. Klasse komplizierte Zungenbrecher im Chor zum Besten gibt – in Kette einen nach dem anderen, so sicher, als wäre gar nichts dabei. Was sich die Braut traut, wenn sie Kraut klaut. Wenn Lutz einen Lutscher lutscht, dann lutscht der Lutz den Lutscher futsch. Tief im dichten Fichtendickicht picken flinke Finken tüchtig. Wenn der Benz bremst, brennt das Benzbremslicht, das Benzbremslicht brennt, wenn der Benz bremst. Das Publikum wird angeregt, es auch zu versuchen: Blaukraut bleibt Blaukraut und Brautkleibleibbrautkraut ….
Die Stimmung ist gut – und stimmstark trägt die Klasse 7 den „Knaben im Moor” von Annette von Droste-Hülshoff vor.
Klasse 8 lässt am Ende ein wenig hinter den Vorhang blicken, der sich ab dem 19. Mai erneut heben wird: Das große Achtklassstück wird diesmal „Der Krug“ sein, eine Komödie von Luigi Pirandello. Das nächste Bühnenspektakel der Waldorfschule Everswinkel. Endlich wieder.
Im Anschluss an die Monatsfeier stöberten alle über den Flohmarkt, den wir an unserer Schule zum ersten Mal veranstalteten. Das Wetter war wunderschön, und alle flanierten in bester Stimmung über das Schulgelände.
Text: Benjamin Weiß (Lehrer), Fotos: Johannes Kalsow