Was wäre, wenn man einen eineiigen Zwilling hätte?
Unser 8-Klass-Spiel 2023
Die meisten Menschen wissen nicht, wie es sich anfühlt oder was es bedeutet, einen Zwilling zu haben. Auch Shakespeare nicht. Doch ihn faszinierte das Thema so sehr, dass er die „Komödie der Irrungen“ darüber schrieb. Zwei Zwillingspaare, die jeweils schicksalhaft getrennt wurden, treffen, ebenso schicksalhaft, eines Tages wieder zusammen. Oder vielmehr: Nicht sie selbst begegnen sich, sondern zunächst nur ihre Mitmenschen, was zu erheblichem Zoff führt.
Eine goldene Kette wird einem der Brüder ausgehändigt, obwohl sie eigentlich für den anderen bestimmt gewesen wäre. Sogleich entbrennt ein wütender Streit, weil der Goldschmied sein Geld verlangt, der leer ausgegangene Kunde aber nicht zahlen will. Und dass es nicht gerade günstig in einer Beziehung ist, wenn der Partner sich plötzlich so verhält, als hätte er seine Liebste noch nie gesehen, kann man nachvollziehen. In dieser Weise laufen die Irrungen, bis sie am Ende doch glücklich aufgeklärt werden können und beide Brüderpaare zusammenfinden. Die 8. Klasse setzte diese Komödie in diesem Schuljahr in Szene. Vor einem südländisch anmutenden, schön gestalteten Bühnenbild, die Kleider nach altertümlicher Art, sodass die Zuschauer sich in eine Zeit versetzen konnten, in der die Hafenstädte des Mittelmeeres im Machtkampf miteinander rangen – im Stück die Städte Ephesos und Syrakus. Wer als Syrakuser in Ephesos erwischt wird und keinen Strafzoll entrichten kann, wird hingerichtet. Einem der Zwillingsbrüder droht deswegen der Tod. Sein Geld hat er zuvor einem jungen Mann gegeben, den er für seinen Diener hält, in Wahrheit aber dessen Zwilling ist – und wiederum Diener seines Bruders. Und um die Verwirrung komplett zu machen, heißen beide Zwillingspaare jeweils gleich: Antipholus und Dromio. Natürlich verlangte es dem Zuschauer etwas Einbildungskraft ab, da die Schüler und Schülerinnen auf der Bühne keine Zwillinge waren. Vielleicht war das aber auch gut so, denn sonst hätte am Ende der Eindruck entstehen können, das Stück wäre nur um ihretwillen ausgesucht worden. Dabei bewegte es Fragen, die sich Jugendliche in diesem Alter, das in vielerlei Hinsicht eine Umbruchszeit markiert, stellen: Wer bin ich eigentlich und was macht mich aus? Wie sehr ist mein Äußeres wichtig? Was macht es mit mir, wenn ich in eine Rolle schlüpfe und jemand ganz anderen spiele? Werde ich dann nicht auch ein Stück dazu? Sofern ich mich darauf einlassen kann? Welchen Sinn hat es überhaupt, etwas nur zu spielen? Wie bringe ich zum Ausdruck, wenn ich diesen Sinn nicht erkennen kann? Auch das Hadern mit dem Hineinversetzen gehört zur Willensbildung dazu. Die ganze Welt ist Bühne – so lautet das vielleicht bekannteste Shakespeare-Zitat – und alle Frauen und Männer bloße Spieler: Sie treten auf und wieder ab. Sein Leben lang spielt einer manche Rolle. Das Theater macht dieses Rollenspiel konkret – und durch die Doppelbesetzung beim Achtklassstück konnten die Jugendlichen in diesem Jahr wieder erleben, dass auch andere genau die gleiche Rolle spielen konnten, die sie selbst verkörperten – wenn auch im Ausdruck, im Talent, in Willenskraft oder Stil anders. Eine der Lehren daraus: Die Rolle eines jeden kann von jemand anderem übernommen werden. Dennoch ist jeder von uns einzigartig. Die 8. Klasse brachte Shakespeare auf die Bühne – und holte den alten Klassiker aus dem Jahr 1594 in den Frühling 2023. Das war ihre große, einzigartige Leistung.
Text: Benjamin Weiß (Lehrer, Redakteur), Fotos: Johannes Kalsow